Annelen Fritz

Warum ich mich mit dem Phänomen "geistige Behinderung" beschäftige

Anfang diesen Jahres diskutierte der Deutsche Bundestag über die Frage, ob der nichtinvasive Pränataltest zur Feststellung einer Trisomie 21 in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden soll - mit diesem können schwangere Menschen ihren Embryo auf das „Down Syndrom“ testen lassen. Dass es hier nicht allein um krankenkassenbezogene Gelderverteilung geht, sondern komplexe ethische Fragen tangiert werden „sieht ein Blinder mit dem Krückstock“.
Durch die rasante (bio-)technologische Entwicklung, deren Beginne bereits jetzt in der Diskussion um die Verwendung der CRISPR/Cas9 „Genschere“ angedeutet sind, werden wir als Gesellschaft zukünftig verstärkt vor komplexe, bioethische Entscheidungen gestellt sein, in denen nicht weniger zur Verhandlung steht als die Frage, was in unserer gegenwärtigen Gesellschaft als wertvolles, lebenswertes Leben erachtet wird.
Ich möchte mit meiner Forschung zur Konstruktion „geistiger Behinderung“ mit dazu beitragen, dass in dieser Debatte nicht nur humanmedizinische oder naturwissenschaftliche Argumente ihren Platz finden.
Wenn das Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik „geistige Behinderung“ als das „größte ungelöste Problem der medizinischen Genetik“ versteht, muss die Soziologie nachvollziehbar machen, dass als von der Normalität abweichend konstruierte Kategorien wie „geistige Behinderung“ keine objektiven medizinischen Pathologien, sondern gesellschaftlich hervorgebracht und damit kontingent sind.
Dazu brauchen wir Wissen darüber, wie unsere Vorstellungen von Normalität und unsere Zuschreibung von Wertigkeit zu bestimmten Merkmalsausprägungen funktioniert. Ich möchte verstehen, wie es dazu kommt, dass bestimmte Merkmalskombinationen als „behindert“ kategorisiert werden, während andere von der „Durschnittssnorm“ abweichende Merkmale für solche Konstruktionen nicht relevant gemacht werden. Nur wenn wir verstehen, auf welchen Prämissen unsere Konstruktionen gründen, können wir uns so komplexen bioethischen Fragen stellen.
Woher kommen unsere Ideen davon, welche (Un-)Fähigkeiten für ein gelingendes Leben wichtig sind? Wie werden diese Grenzziehungen zwischen Norm und Abnorm argumentativ aufrechterhalten? Solche sich durch soziologische Forschungen ergebende Fragen sagen uns viel über die Denkmuster, Machtstrukturen oder Wissensgenerierung der Gesamtgesellschaft. Damit ist die Betrachtung des komplexen Phänomens Behinderung über die Beantwortung bioethischer Fragen hinaus? für die Soziologie höchst interessant - und doch konnte sich noch keine dezidierte „Soziologie der Behinderung“ etablieren.
Aus der Gruppe der Menschen, die „mit einer Behinderung“ leben, hat sich die Forschungsrichtung der Disability Studies gebildet, die sich dem Komplex „Behinderung“ interdisziplinär aus dekonstruktiven Perspektiven annehmen, deren Forschungscommunity bis auf das Wirken einzelner Autorinnen im deutschsprachigen Raum jedoch noch im Aufbau ist. Gerne möchte ich den soziologischen Strang dieser Bewegung stärken.
Ich interessiere mich dabei vor allem für die Konstruktion von „geistiger Behinderung“. Die Denkfigur des sozialen Modells von Behinderung, dass nicht der Mensch im Rollstuhl, sondern die Treppe im Komplex „Behinderung“ das Problem darstellt, ist einfach nachzuvollziehen. Wie schafft es Wissenschaft, diese Denkfigur zu vollziehen, wenn im Komplex „geistige Behinderung“ Kernwerte wie Intelligenz und kognitive Leistungsfähigkeit die metaphorische Treppe darstellen?


Vorträge

22.09
10:15
45min
Aktualisierung der Kategorie 'Geistige Behinderung' im Feld der Leichten Sprache
Annelen Fritz

Im Vortrag wird "geistige Behinderung" als sozial hergestellte Kategorie in den Blick genommen. Das Feld der "Leichten Sprache" - ein Konzept barrierefreier Kommunikation - wird hierfür als Untersuchungsort gewählt. Die konkreten sprachlichen und performativen Praktiken der Herstellung von Leichter Sprache werden in den Blick genommen, um ausgehend davon auf abstraktere „Bilder“ geistiger Behinderung zu schließen, welche diesen Praktiken zugrunde liegen und auf welche im Feld zurückgegriffen wird.

Technik, Wissen und Methoden
HGD 20