07.10.2023 –, Raum 501
Aus Europas offensichtlicher Amnesie zum Geschichtsjubiläum des 28. Juni 2019 (Versailles), wobei ihm von den feiernden Amerikanern vor Ort ein Spiegel vorgehalten wurde, bildete sich die transnationale Aufarbeitungsinitiative Aufa100. Folgerichtig orientiert sie sich an Jubiläen der „ersten Nachkriegszeit”. Es ist hochspannend, Tag für Tag die damaligen Ereignisse nachzuvollziehen. Unterschiedliche Sichtweisen darauf werden mit dem Versuch einer Entideologisierung der Historiographie verbunden.
Der Erste Weltkrieg hatte weitreichende Auswirkungen auf nahezu alle Länder. Die innere Zerrissenheit der Weltkriegsprotagonisten ist ein zeitlos scheinender Aspekt, von der sich die medial überstülpende Geschichte von 1939 bis 1945 eindeutig abgrenzen lässt. Besonders in den kulturellen und Friedensforschungsbereichen wird die Zeitlosigkeit von „1914–1919“ ansehnlich.
Nach der inklusiven Großveranstaltung zum Jahrhundertgedenken des Waffenstillstandes im November 2018 (Centenaire) zeigten auf der feierlichen Veranstaltung zum Abschluss des Versailler Vertrages am 28. Juni 2019 (Centenaire) in ebenjener Schlossanlage nahe Paris weder die Europäische Union noch Europas Unterzeichnerstaaten, unter denen das historische und aktuelle Gastgeberland, Präsenz. Interessant wäre, nachzuforschen, wievielen der Veranstalter und Teilnehmer aus den Vereinigten Staaten es komisch vorkam, dass sich keiner des europäischen Zuhauses um die entsprechende Erinnerungkultur zu kümmern schien. Somit stellt sich die Frage, warum nicht eher die Nationen zumindest am Bildungsprogramm teilnahmen, welche – im Gegensatz zum entfernten Land des Veranstalters – den Vertrag ratifizierten und bis zum Überdruss aufrechterhielten?
Aus dieser offensichtlichen Geschichtsamnesie heraus bildete sich die 2020 gegründete Aufarbeitungsinitiative Aufa100. Nach Ablauf des ersten Weltkriegszentenariums beabsichtigte ich als niederländischer Gründervater und Autor einer transnational konzipierten Jubiläumsmonographie in deutscher Sprache, auf diesen Beobachtungen aufzubauen. Während die Gründerjahre von den Einschränkungen der Coronakrise geprägt waren, veranstalteten wir Anfang 2023 mit fünf Akademikern in Berlin das erste Arbeitstreffen. Bei den Partnerschaften fällt ins Auge, dass diese in keinerlei Drittstaaten außer Deutschland zuhause sind. Seit zwei Jahren ist die Aufa100 Mitglied des Europeana Network Association.
Operativ ist das Ziel, die Vergessenheit durch die Herstellung von Blogposts und Artikeln, welche mal einem journalistischen mal einem wissenschaftlichen Anspruch gerecht werden, aufzulockern. Bis 2033–2039 werden wir uns dabei an Jubiläen der „ersten Nachkriegszeit” orientieren.
Es ist hochspannend, die damaligen Ereignisse Tag für Tag nachzuvollziehen und aus einer entideologisierten Perspektive zu studieren. Wenn auch im Angesicht des nahezu zehn Jahre laufenden Kampfes um die Ukraine (2014) der entsprechende Erhalt des Weltfriedens in weite Ferne gerückt zu sein scheint, hilft uns im allgemeinen der Fortbestand historisch-politischer Amnesie zum Weltkriegszeitalter nicht, diesem Entfernen Einhalt zu gebieten, geschweige denn zwischen Vergangenheit und Zukunft Brücken zu bauen. Dabei machen wir uns dessen bewusst, dass Kritiken oder gar Sanktionierung zur bedauerlichen Aufhebung von Memorial erst greifen werden, wenn im eigenen Hause Tabus älteren Datums, wie das deutsche zum „offenen Ende“ des Großen Krieges, endlich gebrochen werden. Auch wenn weltweit Deutschlands Aufarbeitung der Hitler-Diktatur wie vorbildhaft erscheint, wird sie im Endeffekt ein beschränkt heilendes Teilprojekt bleiben, wenn die Demokratie- und Zivilisationskrise der europäischen Hauptstädte von 1917–1919 stiefmütterlich behandelt wird. Dann blieben wesentliche Lehrstücke der Sicherheitspolitik auf der Strecke. Doch ist es schwer aus der Geschichte zu lernen, wenn immer wieder Fragmente behandelt werden, die in das allgemeine Narrativ passen. Mit Rücksicht auf die vielfach unterschätzte Sprachdimension muss hier unter Projektleitung damals neutraler Herkunftsländer diskutiert werden.
Entsprechend könnte die Friedensforschung um einige Aspekte erweitert werden. Deren Fakultäten sollten mit angepassten Themen und neuen Ideen für politische Beratung oder das Kerngeschäft der Forschung ausgestattet werden. Gesellschaftliche und akademisch spezialisierte Akteure, die sich dem gefährlichen Trend zu Parallelschaltungen zu der Paris/Weimar/Versailles-Gangart vom Diktat zu einer Diktatur entgegenstellen, sollten gestärkt und gefördert werden.
Dies zu untersuchen ist die Hauptaufgabe des einzigartigen Projekts. Am W&F-Jubiläumssymposium stellt sich die transnationale Kommission für Aufarbeitung und Erinnerungskultur ab 1914 gerne vor. In einem dynamisch präsentierten Vortrag (Apple Keynote) werden unterschiedliche Sichtweisen auf die Zwischenkriegszeit mit dem Versuch einer Entideologisierung der Geschichtsschreibung verbunden.
Peter de Bourgraaf (Master of Peace and Security Studies, Hamburg University) is the founder and director of the Berlin/Amsterdam-based Aufa100 – transnational commission for reappraisal and commemorative culture from 1914. With Central European publishers, the independent historian and lecturer from the Netherlands produced German and English-language monographs such as "Hundert Jahre Urkatastrophe. Der Kolonialvertrag 1919 (2018)."