Die Wannseeerklärung 1971 und heute
07.10, 16:00–17:30 (Europe/Berlin), Raum 401

Gegenstand des Workshops ist die Wannseeerklärung zur Friedensforschung von 1971, ihr historischer Hintergrund und vor allem ihre aktuelle Relevanz


Die gegenwärtige Diskussion über die Haltung im Ukraine Krieg und die Positionierung zu Waffenlieferungen an die Ukraine erinnert an eine Frage aus den Kriegsdienstverweigerungsverhandlungen: „Sie stehen zufällig neben einem Flugabwehrgeschütz und nun kommt ein sowjetischer Bomber an und will die hinter Ihnen liegende Stadt bombardieren, was tun Sie?“ Auf den ersten Blick scheint die Antwort auf der Hand zu liegen: Natürlich muss der Bomber abgeschossen werden, die tausenden unschuldigen Menschen in der Stadt wiegen schwerer, als vielleicht 10 Personen Bomberbesatzung, die auch noch klar die Aggressoren sind. Hier muss gehandelt werden! Wer stellt in so einer Situation die Frage nach den „Ursachen und Bedingungen von Gewaltanwendung“, wenn der Dringlichkeit wegen zunächst erst mal die aggressive Gewalt abgewehrt oder beendet werden muss – notfalls eben durch legitime Gegengewalt? Wer kritisiert in einer solchen Situation „eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung“ und setzt auf „emanzipatorische Lernprozesse“, wenn den „unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten“ nur mit schnellen Waffenlieferungen geholfen werden kann? Wer will in so einer Situation noch analysieren, womöglich gar mit den Mitteln kritischer – gewalt- und herrschaftskritischer – Wissenschaft, „mit Hilfe von Ideologiekritik und Kritik politischer Ökonomie“, in die Vergangenheit blicken, wo es viel wichtiger ist, in der Zukunft zu überleben?
Nun stammen die zitierten Passagen, aus der Wannseeerklärung zur Friedensforschung von 1971 (in: Senghaas 1971: 416ff, Koppe 2001: 336ff), dem Gründungsmanifest (Koppe 2001: 223) der kritischen Friedensforschung in der Bundesrepublik. Hat sich also mit dem Ukraine-Krieg – und schon in den 1990er Jahren mit den Jugoslawienkriegen – Kritische Friedensforschung im Sinne der Wannseeerklärung sowohl vom Anspruch wie vom Ansatz her erledigt (siehe auch: Berndt 2023)? Was wäre dann Kritische Friedensforschung heute unter veränderten internationalen Bedingungen, einer veränderten Situation (in) der Bundesrepublik, veränderten Verständnissen von (Kritischer) Wissenschaft und veränderter Biographien und Berufsperspektiven von Wissenschaftlerinnen. Oder, wenn alte Ansätze und Ansprüche nicht vorschnell über Bord geworfen werden sollen: Welchen Blick eröffnet die Wannseeerklärung auf die heutigen Verhältnisse?
In dem Workshop, zu dessen Vorbereitung von den TeilnehmerInnen die Wannseeerklärung gelesen sein sollte, soll die Erklärung anhand ihrer 4 Kritik-Dimensionen, Gewaltkritik, Herrschaftskritik, Ideologiekritik und Kritik der politischen Ökonomie sowohl auf den historischen Hintergrund hin, wie auf die aktuellen Verhältnisse bezogen, diskutiert werden. Dies soll einleitend verdeutlicht und durch Moderation in der ersten Hälfte fokussiert werden. Sodann soll die Möglichkeit zu einem Austausch der TeilnehmerInnen über den vorgegebenen Rahmen hinaus gegeben werden. Damit soll in diesem Workshop zentral die Frage diskutiert werden, welche Friedensforschungen wir für die Zukunft brauchen.
Literatur
Berndt, Michael 2023: Back to the roots! Ein aktualisierter Rückgriff auf Ansprüche und Ansätze der kritischen Friedensforschung aus den 1970er Jahre eröffnet neue Perspektiven. in: https://policyblog.empowermentforpeace.org/2023/06/back-to-the-roots/
Koppe, Karlheinz 2001: Der vergessene Frieden. Friedensvorstellungen von der Antike bis zur Gegenwart; Opladen
Senghaas, Dieter 1971 (Hrsg.): Kritische Friedensforschung; Frankfurt a.M.

Dr. habil. Michael Berndt; Geboren 1962, Oberstudienrat für Musik und „Politik und Wirtschaft“ in Nordhessen, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und Mitglied des AK herrschaftskritische Friedensforschung der AFK.