Grenzenlos Solidarisch? Der Begriff der Solidarität in der radikalen Linken.
21.09, 09:30–10:15 (Europe/Berlin), GD 03/150

Der Vortrag widmet sich der Frage, wie Aktivist*innen in den sozialen Bewegungen der radikalen Linken Solidarität verstehen und welchen Einfluss diese Vorstellungen auf das aktivistische Tun haben. Dabei wird aufgezeigt, dass der Verweis auf Solidarität innerhalb der radikalen Linken sowohl eine exkludierende als auch inkludierende Funktion besitzt und somit stets Grenzziehungen mit dem Verweis auf Solidarität einhergehen.


„[…] so das ist irgendwie diese Utopie irgendwie ne? //mhm// so hey Grenzen sind eigentlich bescheuert so, warum können wir nicht einfach alle zusammen cool sein? […]“ (Zitat Interview Antifaschistin)

Solidarität ist in der (radikalen) Linken ein immer wieder benutzter Kampfbegriff (vgl. Bayertz, 1998). Auf Demonstrationen, Flugblättern und Reden wird Solidarität gefordert und fehlende Solidarität bemängelt. Dabei bleibt das konkrete Verständnis von Solidarität aber häufig unklar. Deshalb widme ich mich in meiner Masterarbeit der Forschungsfrage, wie Aktivist*innen in den sozialen Bewegungen der radikalen Linken Solidarität verstehen und welchen Einfluss diese Vorstellungen auf das aktivistische Tun haben. Für die Masterarbeit wurden qualitative leitfadengestützte Interviews mit Aktivist*innen aus dem radikalen linken Spektrum geführt (vgl. Helfferich, 2011), welche angelehnt an das kodierende Verfahren der Grounded Theory ausgewertet wurden (vgl. Strauss/Corbin, 1996). Im Rahmen eines Vortrags sollen vorläufige Ergebnisse der Forschungsarbeit vorgestellt und diskutiert werden.

Die soziale Bewegungsforschung geht davon aus, dass Solidarität ein konstitutiver Bestandteil von sozialen Bewegungen ist (vgl. della Porta/Diani, 1999). Das Vorhandensein von Solidarität wird dabei auch als ein Bestandteil zum Entstehen sogenannter kollektiver Identitäten gesehen. Als kollektive Identitäten werden geteilte Wahrnehmungen, Konzepte, Überzeugungen und Gefühle von Aktivist*innen angesehen. Durch kollektive Identitäten entsteht das Wir einer sozialen Bewegung und wird gleichzeitig von den Anderen getrennt (vgl. Rucht, 1995; Johnston, 2014; Flesher-Fominaya, 2010). Der Bildung von kollektiven Identitäten ist somit inhärent, dass es eine Grenzziehung zwischen den Aktivist*innen einer sozialen Bewegung einerseits, im Gegensatz zur restlichen Gesellschaft andererseits gibt. Die Auswertung der Interviews zeigt, dass der Verweis auf Solidarität bei dieser Grenzziehung für die Aktivist*innen bedeutsam ist. Es entsteht ein paradoxes Verständnis von Solidarität, indem Solidarität gleichzeitig eine inkludierende als auch eine exkludierende Funktion erhält:

Einerseits skizzieren die Aktivist*innen die Vorstellung einer utopischen „solidarischen Gesellschaft“, in der es keine Kategorisierungen und keine Grenzziehungen mehr zwischen Menschen geben soll. Es werden beispielsweise Wünsche nach einer Aufhebung von Nationalitäten oder von Geschlechtern angesprochen. Als Vorbild für eine solche Gesellschaft dient dabei häufig das Erleben in ihrer eigenen politischen Gruppe bzw. sozialen Bewegung, in denen sie Zusammenhalt spüren und gegenseitige Verbundenheit fühlen. Zugleich realisieren sie in ihren Gruppen ihre gemeinsame Utopie einer solidarischen Gesellschaft. Dies hat eine starke inkludierende Funktion: Die Vorstellung eines solidarischen Miteinanders prägt einen starken Gruppenzusammenhalt und eine hohe Identifikation mit der radikalen Linken, die als Wir verstanden wird. Andererseits ziehen die Aktivist*innen auch immer wieder Grenzen zu anderen Akteur*innen innerhalb ihrer sozialen Bewegung, bei der das fehlende „solidarische Handeln“ der Anderen als Rahmung dient. Es wird berichtet, wie einzelne Akteure aus den Gruppen bzw. Zusammenhängen ausgeschlossen werden, weil sie sich „unsolidarisch“ verhalten. Dies bezieht sich meist auf einen Bruch der Konventionen, die als „solidarisch“ verstanden werden (spontane Hilfe, Vertrauen, gegenseitige Anerkennung, Stillschweigen gegenüber Polizei und Sicherheitsbehörden, usw.).

In dem Vortrag soll dieses Spannungsverhältnis des Verständnisses von Solidarität das zentrale Thema sein. Die Inklusions- und Exklusionsprozesse und somit auch die Grenzziehungen werden anhand des erhobenen empirischen Materials dabei näher ausgeleuchtet.

Literatur

  • Bayertz, K. (1998). Begriff und Problem der Solidarität. In K. Bayertz, Hg., Solidarität: Begriff und Problem. Frankfurt: Suhrkamp., S. 11-53.
  • Della Porta, D. und Diani, M. (1999). Social movements: An introduction. Oxford: Blackwell.
  • Flesher Fominaya, C. (2010). Collective Identity in Social Movements: Central Concepts and Debates. Sociology Compass, 4(6), S. 393–404.
  • Helfferich, C. (2011). Die Qualität qualitativer Daten: Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Johnston, H. (2014). What is a Social Movement? Cambridge: Politiy Press.
  • Rucht, D. (1995). Kollektive Identität: Konzeptionelle Überlegungen zu einem Desiderat der Bewegungsforschung. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 1, S. 9-23.
  • Strauss, A., und Corbin, J. (1996). Grounded theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.

Ich studiere im Master Sozialwissenschaft mit einem Schwerpunkt auf empirische Methoden an der Ruhr-Universtität Bochum. Meine Forschungsinteressen liegen im Bereich der qualitativen Methoden und in der sozialen Bewegungsforschung. Die Bewegungsforschung ist (wie ihr Forschungsfeld) dynamisch, interdisziplinär und international. In meiner Masterarbeit beschäftige ich mich mit der Bedeutung von Solidarität für Aktivist*innen in der radikalen Linken.