Die Begegnung mit dem Fremden als religiöse Ressource. Dialog als institutionalisierte Außeralltäglichkeit.
21.09, 10:15–11:00 (Europe/Berlin), GD 04/620

Fremden Personen, Gruppen oder auch Situationen wird häufig eine "transzendente" Qualität zugeschrieben, die in vielen Gesellschaften mit religiösen Vorstellungen und bestimmten religiösen Institutionen verbunden ist. Dies soll an einigen kurzen historischen und ethnologischen Skizzen illustriert und im Kontext religionssoziologischer Theoriebildung erklärt werden. Die Idee eines "Dialoges der Religionen" und die dazugehörige "Theologie der Religionen" soll als moderne Variante dieses Phänomens beschrieben werden.


In der Soziologie wird dem Fremden oft eine tragende Bedeutung zugemessen: er kann der Innovation überkommener Strukturen dienen oder der Konstitution persönlicher oder „partizipativer“ Identitäten (Hahn 1997). Wegen der ihnen zugeschriebenen „Objektivität“ und Unverbundenheit, wurden Fremde historisch aber auch oft zur Besetzung bestimmter gesellschaftlicher Positionen, die ein hohes Grad an Neutralität erfordern, eingesetzt – etwa als Richter oder Stadtherr, wie in einigen Städten des italienischen Mittelalters. Hierher gehört auch die Nutzung des Fremden als Quelle religiöser Potentiale. Dem Fremden haftet eine transzendente Qualität an, die nutzbar gemacht werden kann. Er stellt das „Außer-ordentliche“ dar, das, was die gewohnte Ordnung „übersteigt“.

Insofern kann die Möglichkeit, Fremdheit als spezifisch religiöse Ressource einzusetzen, als theoretisch vorgegeben betrachtet werden. Doch dient Theorie - aufgefasst im Sinne Max Webers - nur zur analytischen Durchdringung der historisch-konkreten Wirklichkeit. Dementsprechend lässt sich die begrifflich-theoretische Systematisierung des Fremden als Quelle religiöser Potentiale anhand historischer und ethnographischer Fälle konkretisieren.

Zum einen zeigt sich die „rituelle Potenz“ und die daraus sich ergebende rituell bedeutsame Stellung fremder Bevölkerungsgruppen in der sozialen Struktur vieler Völker, wie sie Victor Turner beispielsweise bei den Lunda und den von ihnen unterworfenen, autochthonen Mbwela beschrieben hat (Turner 1991). Auf einer gänzlich anderern Ebene zeigt sie sich aber auch in der „paradoxen Kommunikation“, die im Meister-Schüler-Gespräch im Zen-Buddhismus praktiziert wird (Fuchs 1989). Dieses kann als eine religiöse Technik interpretiert werden, die dadurch eine bestimmte Form „höheren“ Erlebens induzieren will, dass sie den Schüler in ein Gefühl von Fremdheit – im Sinne von „Anschlussunfähigkeit“ (Hellmann 1998) – versetzt. Schließlich zielt aber auch eine Strömung der christlichen Theologie auf die Nutzbarmachung der religiösen Potentiale des Fremden, die – um mit Schelsky zu sprechen – die religiöse Dauerreflexion durch Gespräch, genauer: Dialog, institutionalisieren will (Schelsky 1965). Hierbei wird systematisch der Austausch mit Angehörigen anderer Religionen angestrebt, mit dem Ziel und der Hoffnung, im Prozess des offenen Dialogs miteinander einen gemeinsamen Urgrund, eine „Religionsverbundenheit“ mit dem anderen zu erleben, die jenseits aller rationalen Kriterien liegt, dadurch aber zum „dialogisch-hermeneutischen Wagnis des Glaubens“ aufruft (Otte 2002).

Allen drei Beispielen ist gemein, dass sie von einer grundlegenden Differenz zweier eigenständiger Wirklichkeitsbereiche ausgehen, die man verallgemeinernd als „Struktur“ und „Strukturlosigkeit“ beschreiben könnte. Dabei scheint zum einen die strukturlose Seite eine sinnstiftende Funktion für die Struktur-Seite einzunehmen. Zum anderen ist es stets die Begegnung mit Fremdheit – sei es mit dem Fremden als Person oder dem Fremden als Erfahrungsqualität – die das Erleben des Strukturlosen, des die alltägliche Wirklichkeit transzendierenden herbeiführen soll. Geht man also davon aus, dass innerhalb der Dualität von Struktur und Strukturlosigkeit der Strukturlosigkeit eine essenzielle, meist religiös konnotierte Funktion zukommt, dann können die beschriebenen Institutionen (und zahlreiche weitere) als Formen der Nutzung des Fremden als religiöse Ressource im Sinne dieser Funktion verstanden werden. Die Soziologie des Fremden ließe sich somit in die allgemeine Religionssoziologie einordnen.

Literatur

  • Fuchs, P. (1989). Vom Zweitlosen: Paradoxe Kommunikation im Zen-Buddhismus. In: N. Luhmann und P. Fuchs, Reden und Schweigen, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 46-69.
  • Hahn, A. (1997). "Partizpative" Identitäten. In: H. Münkler und B. Ladwig, Hg., Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, 1. Aufl. Berlin: Akademie Verlag, S. 115-158.
  • Hellmann, K.-U. (1998). Fremdheit als soziale Konstruktion. Eine Studie zur Systemtheorie des Fremden. In: H. Münkler, K. Meßlinger und B. Ladwig, Hg., Die Herausforderung durch das Fremde, 1. Aufl., Berlin: Akademie Verlag, S. 401-459.
  • Otte, K. (2002). Interreligiöser Dialog und Hermeneutik. Eine Hinführung zur Kommunikation zwischen den Religionen aus erlebter Praxis. Religionen im Gespräch, 7, S. 314-332.
  • Schelsky, H. (1965). Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie. In: H. Schelsky, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, 1. Aufl., Düsseldorf: Eugen Diederichs, S. 250-275.
  • Turner, V. (1991). The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. Ithaca, NY: Cornell University Press.