Totality revisited - Zur Aktualität eines klassischen Konzepts
22.09, 10:15–11:00 (Europe/Berlin), GD 04/620

Interdisziplinarität ist in aller Munde. Überall schießen Studiengänge und Institute aus dem Boden, die sich diesem Programm verpflichtet fühlen. Doch welche Interdisziplinarität hier genau gemeint ist, bleibt im Dunkeln. Zwar wird oft auf die Vorteile einer solchen Forschungsweise oder Ausbildung verwiesen, kann man so doch die Dinge von mehreren Seiten betrachten, aber eine zusammenhängende Erläuterung darüber findet man selten. So gesehen erscheint die gegenwärtige interdisziplinäre Forschung als reine Modeerscheinung, sie ist eher zufälliger Natur und weniger Produkt systematischer Überlegungen.

Ein Blick in die Geschichte sozialwissenschaftlicher Forschung belegt jedoch, dass auch schon zu früheren Zeitpunkten Interdisziplinarität in der Wissenschaft eine Rolle spielte. Erinnert sei hier natürlich an das Institut für Sozialforschung, welches von Max Horkheimer ab 1930 geleitet wurde. Auch er verweist in seiner bekannten Eröffnungsrede auf eine Konzeption der Forschung, die die Grenze der Einzelwissenschaften einzureißen hat. Jedoch wird gerade hier nicht ersichtlich, was genau darunter zu verstehen ist. Es kann aber aus den Texten der frühen Phase der kritischen Theorie ein besseres Bild zu dieser Frage abgeleitet werden. Diesen liegt unverkennbar die Auseinandersetzung mit Georg Lukács‘ Theorie der Verdinglichung zugrunde, welcher mit der Kategorie der konkreten Totalität die Erkenntnis des Ganzen im Sinne hatte, die letztlich zur Aufhebung der kapitalistischen Ordnung führen sollte. In diesem Wissenschaftsverständnis gibt es, so Lukács, genaugenommen gar keine Einzeldisziplinen mehr, wohl aber Einzelfragestellungen, die auf das Erfassen der Totalität gerichtet und selbst Teil des revolutionären Prozesses sind.

Was vielleicht auf den ersten Blick ein wenig angestaubt und behaftet mit vergangener Romantik erscheint, kann, so meine These, als einer der wichtigsten Beiträge zur aktuellen Situation der Sozialwissenschaften interpretiert werden. Dass dies keineswegs aus der Luft gegriffen ist, beweist Geoffroy de Lagasnerie mit seinem im letzten Jahr erschienenen Essay 'Denken in einer schlechten Welt', in welchem er die Notwendigkeit eines Totalitätsbegriffes diskutiert. Hiermit kann kohärent eine interdisziplinäre Soziologie begründet werden, da wissenschaftliche Tätigkeit in ein immanent politisches Praxiskonzept eingelassen wird. Damit bekommt Wissenschaft einen kritischen Gehalt. Sie ist so nicht nur in der Lage auf ihre eigene soziale und politische Verflochtenheit zu reflektieren, sondern auch einen Beitrag dazu zu liefern, gesellschaftliche Verhältnisse über sich hinauszutreiben.